Die Welt steht stiller

 

Ich gehe hinaus auf die Straße, es ist Donnerstag, 9 Uhr. Ein Donnerstag im März, kurz vor Ostern. Es ist das Jahr 2020 und die Welt hat sich verändert. Alles ist stiller geworden.  Kein Gehetze zur Arbeit während eines eiligen Telefonats mit dem Smartphone, keine Menschen die eilig der üppigen Versorgung durch den Wocheneinkauf hinterherlaufen, keine schwatzenden Menschen auf der Straße, kein großer Verkehr auf der sonst so vielbefahrenen Hauptstraße – nicht, dass ich als hochsensible Person den vermissen würde…

Der Tag fühlt sich trügerischerweise wie Urlaub an.

 

Ich gehe entspannt zu meinen notwendigen Einkäufen– auch wenn das Virus tobt. Die Menschen die mir nun entgegen treten sind andere: manche von Ihnen tragen Atemmasken, sind bedacht auf Abstand, so wie es die Kanzlerin im Fernsehen angemahnt hat. Einige springen einen halben Meter zur Seite, wenn ich auf Sie zugehe, die nächsten halten ihren Blick starr zu Boden gerichtet. „Blickkontakt ist nicht ansteckend“, höre ich meine herzliche Nachbarin lachend in meinem Hinterkopf zu mir sagen.

 

Es ist eine merkwürdige, apokalyptische Stimmung und sie fließt durch mich hindurch, wenn ich durch die mir vertrauten, doch völlig veränderten, Straßen gehe.  

 

Ich habe keine Angst, weder vor dem Virus, noch dass ich kein „vierlagiges“ zu Hause haben könnte. Doch bin ich berührt, manchmal geschüttelt und mitgenommen von der Flut der Informationen und der Gefahr, die das Virus uns bringt.

 

Daher versuche ich mich gezielt und dosiert zu informieren, um besonnen und umsichtig zu handeln. Uns helfen Routinen und Strukturen und ein gezieltes „Alleinzeit genießen“, um dann bewusst wieder zusammen zukommen. Wir sind zu Hause sicher und genießen die gezielten Zeiten draußen ganz anders: gehen nur raus wenn es sein muss, zum Beispiel zum Einkaufen oder mal bewegen. Eine Mischung aus Rücksicht auf andere und trotzdem dem eigenen Sein gerecht werden.  Ansonsten zieht es, vor allem mich, in die Natur, raus in den Frühling, der mir kurioserweise in diesem Jahr strahlender und schöner erscheint als je zuvor.  

 

 

Ich habe auch keine Angst loszulassen, das Vergangene ist ja schon gegangen. Ich freue mich sogar auf das Neue und Ungewisse – auch wenn ich es noch nicht kenne, genieße ich das jetzt. Ein ganz anderes, als ich es je kannte und das mich und meine Familie an Grenzen entlang führt und deutlich zeigt wo verbindendes und positives stärkt.

 

Wir dürfen einfallsreich werden, uns im virtuellen Raum begegnen, das gute alte Festnetztelefon hat eine neue Bedeutung bekommen. Wir erleben eine entbehrungsreiche Zeit. Die Versorgung ist auf ein Minimum reduziert, wir spüren mit wie wenig wir auskommen können und nehmen wahr, was uns wirklich fehlt – echter Kontakt.

Mir fehlen Blickkontakte, freundliche kleine Gesten, Umarmungen meiner Lieblingsmenschen, tiefe Begegnungen in Gruppen, im Kleinen, im Alltag. Wir alle begegnen uns nun anders.

 

 

Die leise Ahnung, dass nichts in Zukunft bleibt wie es war, webt sich wie ein feiner Goldfaden unscheinbar mit ein, in alles was wir tun. Wir stoßen täglich an unsere Grenzen, erleben gemeinsam Entbehrung und werden überwinden was sich uns im Moment zeigt. Aber die Zeit bis dahin, dürfen wir uns und dem bewussten Umgang mit der Krise einräumen. Wir wachsen gemeinsam in eine neue Zeit.

Die Vergänglichkeit (von Dingen, Geldwerten, Existenzen) mit der wir nun tatsächlich echt konfrontiert sind, braucht einen aktiven Umgang und Lösungen.

 

Lange hatte ich mir gewünscht, dass etwas geschehen möge, die Welt sich verändert, der Umgang der Menschen im Miteinander ein anderer werden möge. Das ewige Hamsterrad des kollektiven Unbewusstseins mal kurz still stehen möge.

 

Mit einem gewaltigen Knall, der rund um den Globus hallt, ist sie da – die laute Stille, das große Ausatmen der Welt, der verbindende Abstand zwischen den Menschen.

 

Der Atemstillstand der Welt in Form eines Virus, das die Atemwege angreift…