Eine der positiven Nebenwirkungen von Corona ist für mich, dass durch die geschrumpfte Anzahl der verbleibenden Freizeitmöglichkeiten, auch mein pubertärer Sohn ab und zu wieder auf den Spielplatz mitkommt. So auch in der letzten Woche als das Tochterkind und ich loszogen im nahegelegenen Park zu spielen. Doch es fühlte sich um uns anders an. Regelmäßig hörten wir auf dem Spielplatz Desinfektionssprayer sprühen, es roch auch nach den Mitteln. Ich hörte Ermahnungen an viel zu kleine Menschen, doch bitte zu den anderen Abstand zu halten. Einige Eltern saßen mit Mund-Nasen-Schutz auf den Bänken. Mir fror kurz das Herz ein.
Ich spürte plötzlich stark die Lücke zwischen dem Kontaktwunsch und der Unbeschwertheit von Kindern und der verunsichernden Situation und mir wurde stark bewusst, wie anders alles ist. Das Vergnügen meiner beiden Kinder schien das nicht zu schmälern. Sie hatten einander und Spielgeräte und so spielten sie ausgelassen und vertieft auf dem Spielplatz. Die Kinder spielten, tobten, kletterten, alberten und fuhren auf der Drehscheibe um die Wette. Ich genoss es den beiden beim unbeschwerten Spiel zuzusehen und las nebenbei ein Buch. Diese, im „Vor-Corona-Alltag“ rar gewordenen Momente genoss ich wahnsinnig und an dieser Stelle bin ich der Pandemie ein klein wenig dankbar: zu sehen, wie mein fast 13-jähriger nochmal kurze Ausflüge in die Kindheit wagt, von der er sich ansonsten genau jetzt natürlich abgrenzen möchte. Das berührt mein Herz. In meinem Ohr das freudig aufgedrehte Lachen meiner Tochter, wenn die Drehscheibe immer schneller wird und sich die Stimme vor Freude überschlägt:“ Maaaaaamaaaa, guck maaaal“ . Das kann ich wieder ganz anders betrachten. Nach einem entspannten Stündchen, so gegen 18 Uhr wollte ich die Kinder einsammeln und nach Hause - Abendbrotzeit.
Genau in dem Moment, als ich meine beiden „Turner“ zu mir rief, hörten wir eine fröhlich beschwingte Hupenmelodie ertönen und alle Kinder auf dem Spielplatz reckten die Köpfe und alle Eltern auf dem Spielplatz hielten entsetzt den Atem an. Der Eiswagen kam in den Park – zur allerbesten Familien-Aufbruchzeit. In sekundenschnelle brachen Dialoge aus über die Abendessenzeit, Kinder schmissen sich strampelnd zu Boden und einige Eltern ließen sich auf eine Kugel überreden. Ich beobachtete die Szenarien mit Sorgenfalten auf der Stirn und dem Plan fürs Abendessen im Hinterkopf. Da kamen auch schon die Früchte meiner Lenden auf mich zu, mit großen Kulleraugen und langgezogenen Vokalen fragten sie engelsgleich:“ Mama, geht eine Kugel bitte?!“ Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, die Gedanken ratterten, Sorge über zu wenig Nährstoffe und gesunde Ernährung feuerten durch mein Großhirn. Ich atmete durch und ich setzte ein innerliches Stopp. Und ich dachte an die, mir plötzlich wieder präsente Kindheits-Erinnerung einer lieben Freundin. Ihr Vater, der vor gut sechs Jahren, zu jung, diese Welt verlassen hat, hatte seinen Kindern oft Kleinigkeiten gekauft: Sammelkarten, gemischte Süßigkeiten-Tüten, Panini-Sticker, Lollis, das gute alte Überraschungs-Ei. Wenn seine Frau darauf nicht erfreut reagierte, hatte er stets erwidert: „Wie lange kann ich noch für eine Mark der König sein? Die Zeit ist begrenzt. Dann wollen die Kinder teure Klamotten, bestimmte Spielsachen, Elektronik – alles was viel mehr Geld kostet. Jetzt freuen sie sich noch an den kleinen Dingen. Solange ich für eine Mark der König sein kann, mache ich das auch!“
Einige Jahrzehnte weiter und einen Währungswechsel später, hat er diese Weisheit auch mit seinen Töchtern geteilt und ihnen für ihre Kinder zu bedenken gegeben. Genau daran erinnerte ich mich in diesem Moment. „Wie lange kann ich noch für ein Euro der König sein?“
Die Erinnerung hat sich zum besten Moment wieder berührend in mein Herz geschlichen. Ich lächelte und fühlte große Dankbarkeit.
Die vermeintliche Normalität im Alltag -mit Corona- ist für uns alle, aber vor allem für unsere Kinder nicht wie vorher und auch nicht „normal“. Ohne geregelten Alltag können die bisher gültigen Ansprüche und Vorstellungen nicht in eine andere Situation passen?
Also verabschiedete ich mich von „nichts naschen vor dem Abendessen“. Ich spürte in diesem Moment den Zwiespalt so stark, dass wir versuchten eine Normalität herzustellen, während sich um uns herum nichts danach anfühlte. Und so brach ich meine eigenen Regeln und probierte etwas Neues.
Ich runzelte die Stirn und wühlte gespielt angestrengt in meinem Portemonnaie herum… „Hhhmmm, oh, ich weiß gar nicht ob ich Kleingeld dabei habe. Und ihr wisst ja eigentlich auch, dass wir vor dem Abendessen nicht naschen.“
„Jaaaa, Mama. Aber bitte nur einmal.“, quengelte es im Chor.
„Naja, vielleicht können wir heute mal die Regeln brechen. Ein bisschen was verbotenes tun. Das Abendessen kann mal ausfallen.“ Die Kinder jubelten!
„Mal sehen ob ich Kleingeld habe. Naaaa, da habt ihr aber Glück! Ich habe noch für jeden einen Euro.“
Meine Kinder rannten mit glühenden Gesichtern los, um sich am Eiswagen anzustellen. Im Weggehen riefen sie: „Mama, du bist die Beste!“. Ich schnappte mir mein Handy und musste meiner Freundin die Geschichte erzählen. Sie reagierte berührt darüber, dass ich mir diese für sie emotionale Kindheitserinnerung gemerkt hatte.
Als einige Minuten danach meine Kinder mit ihren Lieblingseissorten schleckend und glucksend zurückkamen, versicherten sie mir, es sei das beste Eis, dass sie je gegessen hätten. So ein verbotenes Eis wäre richtig gut!
„Mama, das solltest du auch mal probieren!“, gab meine achtjährige zum Besten.
Mit dem wunderbaren Gefühl „für einen Euro die Königin zu sein“ und die Kinder zu Königen wachsen zu sehen – schlenderten wir beglückt durch den Park nach Hause.
Meine Kinder waren im ungewohnten Alltag unbeschwert – und das war leicht. Ich musste nur den Mut aufbringen meine Prinzipien sausen zu lassen. Und so erlebte ich ein Königreich der Herzen – für einen kleinen, wundervollen Moment.