Über die Geduld

 

„Geduld ist in solchen Situationen meistens abwesend“, sagte ein guter Freund und Wegbegleiter vor einigen Wochen zu mir in einem Telefongespräch, in dem ich meine Sorgen klagte.

Er sagte es in seiner schlicht zurückhaltenden und trocken-ironischen Art – die ich sehr an ihm mag. Es hat eine Qualität von Klarheit und Verbundenheit. Sehr dankbar bin ich ihm für diesen Satz, der mich seither öfters begleitet und den ich bereits weiterschenken durfte.

 

Wenn ich spüre, dass die Ungeduld in mir brennt und unter der Haut kribbelt, denke ich an diesen Satz und er bringt mich zum Lächeln. Er trifft den Punkt und erinnert mich an Verbindung.

 

Ich bin im Moment wieder in persönlichen, großen Veränderungsprozessen unterwegs und neige dazu schnell weiter zu wollen. Dabei habe ich eigentlich gelernt, dass die Prozesse mit dem „älter und erwachsener werden“ sehr viel mehr Zeit und Geduld brauchen. An dem „eigentlich“ hörst Du schon, ich tue mich immer wieder schwer mit der Akzeptanz der Verlangsamung. Die großen Fragen des Lebens lassen sich nicht mal eben schnell abhandeln. Ich liebe es und hasse es gleichzeitig. Denn mein Naturell ist so veranlagt, dass es gern fließend und zügig weiter möchte.

Mit der Neueröffnung und Anmietung von größeren, gemeinsamen Praxisräumen, kommen auch neue Herausforderungen, Verpflichtungen zu mir. Ich muss und darf mehr Raum nutzen und einnehmen, dieser Raum möchte auch finanziert werden. Und so umtreiben auch mich  an diesem Morgen die Sorgen und Gedanken, die viele Selbstständige in unruhigen Zeiten beschäftigen: „Klappt das finanziell alles? Schaffe ich das? Habe ich mir nicht zuviel vorgenommen? Bleiben Klienten nun aus?“ Und ich möchte am liebsten jetzt sofort Antworten auf diese Fragen haben. "Hallo, liebe Ungeduld - da biste ja wieder. ;-)"

 

Die selbstständige Arbeit sehe ich als Prozess an und so hat es sich für mich in den letzten zwei Jahren auch gezeigt: Alles findet sich und zwar in dem Tempo wie es für mich gangbar ist. Es gibt Dinge für die brauche ich eine gute Planung und die weiß ich sicher und es gibt Dinge die erfordern Zuversicht (daran mangelt es mir nicht) und eben Geduld. Geduld die eben oft abwesend ist. Besonders wenn ich konfrontiert bin mit dem Nichtwissen.

Dabei wünsche ich mir die Verlangsamung oft und strebe sie auch an. Die Kraft der Verlangsamung ist mir bewusst und doch bringe ich für mich selbst nicht immer die Bewusstheit auf, um sie für mich zu nutzen. Meine Klienten kennen von mir den Satz:“ Können wir da mal kurz bleiben?“ – ich denke einige mögen ihn nicht. So wie ich es auch nicht mag, das Gefühl ausgebremst zu werden.

 

Und doch entdecke ich immer wieder Wunder in dem bewussten Verlangsamen. Ich halte inne – es ist eine kleine Pause- die manchmal auch im Alltag nötig ist um zu verarbeiten, sich neu zu orientieren und das SEIN an sich spüren. Wie ein „geheimer Raum“ der sich auftut und neue Türen zum Öffnen und neugierig dahinter schauen bietet.

 

So erging es mir auch mit der Neueröffnung der gemeinsamen Praxis mit meiner Kollegin Sylke. Als ich an diesem Freitagmorgen unseren Tag der offenen Tür begehen möchte, um mal kurz inne zu halten, zurückzuschauen und wahrzunehmen, was wir gemeinsam erreicht haben. Menschen einzuladen einen Blick in unsere Praxis zu werfen und ein wenig den Raum zu erkunden ist ein schöner Anlass, ich bin sehr gerne Gastgeberin. Doch die Fragen, sie sind ausgerechnet heute da und zerren ungeduldig an meinem gepunkteten Kleidersaum. Ich beschließe sie für jetzt einmal kurz wegzuschieben und mich auf diesen bewusst markierten Übergang zu freuen.

 

Doch dieses bewusste Anhalten und stolz zu sein auf das was ich (und wir) geschafft haben, fällt mir immer noch schwer. Ich meine oft, ich müsse weiter gehen, damit ich das Optimum erreiche. (Was immer das eigentlich sein soll ?!) Ich zweifle an, ob ich wirklich gut genug bin.

 

Schon das Aufhängen eines Spiegels im Flur gelangte zur Herausforderung und wir lebten mutig damit, dass er noch nicht installiert werden konnte.

 

Trotz der scheinbar nicht optimalen Bedingungen (auch mit der Pandemie) ist es uns gelungen eine Möglichkeit der zwanglosen und authentischen Begegnung zu gestalten. Der Tag verlief ganz wunderbar und ich spürte die tragende Kraft des Kontakts, die wir an diesem Tag genießen durften. Alt bekannte, freundliche und neue Gesichter freuten sich mit uns und gratulierten uns. Es waren auch Begleitpersonen dabei, die ich noch gar nicht kannte. Eine freundliche, junge Frau verabschiedete sich mit den Worten: „Es ist so einladend bei euch und mir gefällt der Text in dem Bilderrahmen in deinem Arbeitsraum!“

 

Ich freue mich immer sehr, wenn jemand so liebevoll arrangierte Dinge wahrnimmt. Es handelt sich dabei um einen Textauszug eines Briefes des Dichters Rainer Maria Rilke:

 

“…und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.”

 

 Anmerkung:  Diese Zeilen stammen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke „an einen jungen Dichter“ (Franz Xaver Kappus) ,Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903

 

 

Dieser Tag der so angefüllt mit Begegnung, Kontakt und geteilter Freude war und ich es geschafft habe, kurz anzuhalten und die Fragen, die sich mir stellten nicht in Sorgen zu verwandeln, der wird mir noch eine Weile im Gedächtnis bleiben.

 

Da durfte etwas im Raum des Nichtwissens geschehen, inspiriert durch den Funken der Freude einer Unbekannten, der mich erinnerte und mir einen bewussten Moment der Verlangsamung schenkte.

 

Danke, an die freundliche Unbekannte für die Erinnerung an Rilkes Zauberformel menschlicher Prozesse:

 

Geduld zu haben bis ich in die Antworten hinein leben kann und währenddessen alles zu leben!