Lektionen der Scham

 

Heute treffe ich mich im Videochat. Ich bin verabredet mit meiner Freundin Elisabeth. Klingt gewöhnlich, eine Videokonferenz -  zumindest seit dem die Pandemie in vollem Gange ist.
Doch dieses Treffen ist ein besonderes: ein Frühstück im Bett. Eine in Hamburg und eine in Bremen. Ungeschminkt, ungekämmt und ungeschönt. Ganz pur Elisabeth und Bianca. Zwei Menschen mit Frühstück. Dieses kleine Ritual haben wir zwei für uns entwickelt. Ab und zu verabreden wir uns dafür. Heute hat es Elisabeth vorgeschlagen, um meinen Geburtstag nachzufeiern. In Vorfreude bereite ich mir ein ganz besonders schönes Frühstück zu.

 


Was so unspektakulär klingt, war für mich zunächst eine Herausforderung. Eine Erweiterung meiner Grenzen. Genau genommen sogar eine Sprengung meiner anerzogenen Moral, der tief sitzenden Beschämung, die mich seit Kindertagen geprägt hat. Eine Herausforderung alte Glaubenssätze zu überprüfen. Die Scham zu überwinden, mich ganz zu zeigen von meiner ganz privaten Seite mit Strubbelhaar und Morgenstimme. Niemals gehe ich normalerweise ungestylt aus dem Haus. Bei ungeplanten Besuchen verschwinde ich sofort ins Badezimmer: will mich nicht zeigen und so nicht gesehen werden: aus Scham. Oder aus Beschämung? Das fällt mir noch immer schwer zu unterscheiden. 

Scham ist als reines Gefühl genommen, etwas sehr Gesundes und Wichtiges. Ich habe die Scham mittlerweile kennengelernt, als etwas Notwendiges, um den eigenen, intimen Raum zu verteidigen. Die natürliche Scham ist eigentlich eine Art Wächterin, die diesen Raum bewacht. Der Sicherheitsdienst für die Grenzen sozusagen.

Ich schäme mich häufig, wenn mir jemand ein Kompliment macht, meine Kleidung bewundert. Dann stammle ich meistens eine Antwort:“ Ich dachte, das passt ganz gut zum Wetter!“ Ich schaue betreten zu Boden und kann nur selten einfach „Danke“ sagen und meinen. Die Beschämung flutet meinen Körper, mein Gesicht wird knallrot und verrät zu allem Übel meinen Gemütszustand.
Ich habe gelernt mich stets von der besten Seite zu zeigen. Die Glaubenssätze tickern in Massen in solchen Momenten durch meinen Kopf. Wow! „Was sollen die Leute denken“ ein Leitsatz meiner Kindheit. Was sich alles "nicht gehört"... Ich bin mit Beschämung erzogen worden, die mich als Person in Frage gestellt hat: durch die Erwachsenen in meinem Umfeld, die sich nicht anders zu helfen wussten oder es vielleicht selbst so erfahren haben...

Die Beschämung ist in meinem erwachsenen Alltag wie ein ungebetener Gast, ein Sondereinsatzkommando, das einfach durchs Fenster reinkracht, die Tür einrammt und die Auslieferung einfordert, während sich mein Inneres unter dem Sofa verstecken möchte. Mit den Jahren habe ich geübt mit dem Sondereinsatz umzugehen. Durch bewusstes Bemerken werden die Einsätze nach und nach seltener. Die Truppe des SEK hat für mich eine überflutende Kraft im Gepäck, die besonders im zwischenmenschlichen Kontakt „hochkochen“ kann. Zum Beispiel wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich erwünscht bin oder mich im Kontakt nicht orientieren kann. Also habe ich früh angefangen von mir aus den Kontakt zu suchen und herzustellen, so hatte ich ein wenig den Türknauf in der Hand und hatte mehr das Gefühl entscheiden zu können, wann ich wen reinlasse. Wenn mein Nervensystem in solchen Momenten anschlägt, ich paradoxerweise überdreht lache und „albern“ wirke, ärgerte ich mich früher ständig, weil ich irgendwie „außer mir“ war. Heute weiß ich: das ist eine Maßnahme, die mein Körper automatisch für mich übernimmt, um mich zu regulieren und wieder Sicherheit für mich herzustellen. Ein Schutz den ich mittlerweile mehr anerkennen kann.

Und als die Idee mir zum ersten Mal kam, dass ich es mit Elisabeth wagen könnte ein kleines Stückchen meiner Beschämung zu begegnen, weil sie für mich eine echte Vertrauensperson ist, habe ich nicht lang gezögert. Ihr vertraue ich so sehr, dass ich wage mein unperfektes Äußeres zu zeigen. Sie einzuladen in mein privates Reich, ein Klacks wo sie doch so viele meiner Schatten kennt und immer noch an meiner Seite ist. Besonders wenn ich einen kurzen Moment der Überzeugung bin, ich müsse mich meiner Existenz schämen.
Also fragte ich sie damals zum ersten Mal nach einem besonderen Frühstücks-Video-Chat. Ein deutliches "Ja" zu bekommen ist für mich ein so wundervolles Geschenk!

Und so viel sei verraten: es ist einmalig schön gewesen dieses Experiment zu starten. Und ich konnte spüren, dass echter lebendiger Kontakt ein Killer für die Beschämung ist und genauso der kreative Ausdruck, der mich das hier gerade schreiben lässt. Der dafür sorgt, dass ich ein Stück von mir ganz persönlich genau jetzt in diesem Moment mit dir teile.
Ich habe es tatsächlich gewagt: ungeschminkt und ungekämmt mich ganz pur zu zeigen, mit ihr mein Frühstück zu teilen, zu quatschen und dabei etwas zu tun was ich noch nie getan habe:
Ich habe es schamlos genossen.

Ich kann's also empfehlen: eine Elisabeth zu haben und mit wildem Haar im Bett zu frühstücken.